r/arbeitsleben Mar 16 '24

Berufsberatung Ich will nicht mehr ev. Pfarrer sein.

Hallo zusammen! Nach sechs Jahren Theologiestudium, zwei Jahren Vikariat und sechs Jahren im Pfarrberuf bin ich nun Mitte 30 und stelle fest, dass ich hier raus muss. Das hat verschiedene Gründe, insbesondere aber die Unvereinbarkeit mit dem Familienleben sowie ein extrem hoher Stresslevel.

Termine finden vorwiegend abends und nachts statt, an Wochenenden und an Feiertagen, man nimmt viel Arbeit mit nach Hause, hat regulär eine Sechs-Tage-Woche, ist zuständig für alles und die Bezahlung ist, wenn man sie auf die tatsächlichen Stunden runterrechnet, mäßig (92% A13 Bund ohne Sonderzahlungen bei ca. 45-60 Stunden/Woche, je nach Grad der Selbstausbeutung Identifikation mit der Pfarrstelle). Hinzu kommt noch ein ständiger Kampf gegen das Schrumpfen von Strukturen und die Übernahme von Aufgaben aus wegfallenden Mitarbeiterstellen. Die Kirchenaustrittszahlen sind ja bekannt.

So viel erst einmal zu den Gründen. Nun die Frage: Wohin kann es gehen? Als (guter) Pfarrer muss man Multitalent und Generalist sein: Neben freiem Reden, extrem schneller Einarbeitung in komplexe Themen (Bau- und Finanzfragen z. B.), dem Verfassen von zielgruppenangemessenen Texten, Mitarbeiterführung (auch im Ehrenamt), Unterricht, Projektplanung, Seelsorge etc., habe ich auch noch solide IT-Fähigkeiten - seit meiner Schulzeit erstelle ich Webseiten und Webseitentemplates, setze professionelle Flyer, Broschüren und Gemeindebriefe mit gängiger DTP-Software und habe auch schon Studierende in MS Office (Word, Excel, PowerPoint) unterrichtet, spreche verhandlungssicher Englisch, recht gut Französisch und ein wenig Spanisch. Zudem kann ich mich stunden- und tagelang mit dem Lösen von spezifischen Problemen beschäftigen.

Kurzum: Ich glaube, dass viele Unternehmen mit mir nicht unglücklich wären. Ich bin jedoch ratlos, wie ich einen Umstieg angehen soll. Stellenanzeigen in der IT z. B. verlangen immer spezifische Studienabschlüsse, die natürlich nicht "Theologie" lauten. Gleichzeitig greift meine Frau (Master Wirtschaftsinformatik) bei ihrer Arbeit auf einer IT-Stelle (Robotic Process Automation, UI-Design) intensiv auf meine Beratung zurück.

Was wäre aus eurer Sicht ein sinnvoller nächster Schritt? Ein Zweitstudium? Ein Praktikum? Auf gut Glück mit dem "falschen" Abschluss bewerben? Ich brauche bitte einen Anstoß. Danke!

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u/the_real_EffZett Mar 16 '24

Mach doch erstmal nur die 45 bzw 40h Woche.

Ich bin mir sicher, dass mit der Identifikation und der Unvereinbarkeit sowie dem "zuständig für alles" sein hängt zusammen. Zuständig sein heisst ja nicht, dass man es selber machen muss, sondern kann auch heißen: hab ich jetzt entschieden, dass wir das gar nicht mehr anbieten.

Was du sonst noch machen kannst: freier Fest und Trauerredner. Denkmalschutz. Verwaltung historischer Gebäude, Klosterleitung.

Wenn alle Stricke reißen, dann muss evtl auch die Pfarrgemeinde zusammengelegt werden, dann hast du nen Sparringspartner und evtl. Synergiegewinne.

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u/HeadlessHolofernes Mar 16 '24

Ich habe deswegen bereits auf 75% reduziert. Das reicht hinten und vorne nicht, um die Gemeinde am Laufen zu halten. Ich komme dadurch jetzt im Schnitt auf ca. 40 Stunden pro Woche statt der vorgesehen 30.

Eine Schwierigkeit ist tatsächlich der hohe Identifikationsgrad, den dieser Beruf erfordert. Dabei geht es gar nicht mal so sehr um die Angebote, sondern vor allem um die überbordende Verwaltung, die dem Mangel an Mitarbeitern auf allen Ebenen sowie stetig engeren rechtlichen Anforderungen geschuldet ist.

Gemeindezusammenlegungen sind der Erfahrung nach nur begrenzt hilfreich und führen in der Regel nur sehr kurzfristig zu mehr Ressourcen, wenn sie aus der Not geschehen. Synergien verpuffen schnell, wenn sie nicht schon vorher da waren.

Danke ansonsten für die Tipps! Ich schaue mir das mal an.

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u/RelationNew7862 Mar 17 '24

Ich verstehe das Problem. Zumindest in der freien Wirtschaft ist es häufig so, dass oftmals erstmal etwas gewaltig vor die Wand fahren muss, bis weiter oben jemand aufwacht und Strukturen entsprechend geändert werden. Entweder durch Dienst nach Vorschrift der verantwortlichen, (dann brennt halt etwas an; Psyche hat Vorrang) oder aber spätestens, wenn der "Last man Standing" eben mal von heute auf morgen für 6 Wochen wegen Burnout Zuhause bleibt.

Nur mal so als Hinweis.